Sozioökonomische Rahmenbedingungen und Perspektiven der Türkei. 

Univ.-Prof. Dr. Spiridon Paraskewopoulos 

Universität Leipzig

I n h a l t

 

1.    Einleitende Vorbemerkungen

2.    Die Europäische Erweiterungsstrategie und die potentiellen Beitrittskandidaten

3.    Die Beitrittskriterien, die Heranführungsstrategie der EU und die Türkei

4.     Die Anforderungen der EU und die sozioökonomischen Probleme der Türkei 

4.1   Die erforderlichen marktwirtschaftlichen Bedingungen im Rahmen der EU 

4.2      Die sozioökonomische Situation der Türkei nach der Bewertung der Europäischen

          Kommission 

5.    Fazit

6.    Anmerkungen

7.    Anhang

 

1.    Einleitende Vorbemerkungen

   Die Europäische Union steht angesichts der Ost- und Südosterweiterung vor großen und neuen Herausforderungen. Oft empfiehlt sich bei der Bewälti­gung neuer Herausforderungen ein Blick zurück auf bereits Erreichtes. Nicht mit dem Ziel, sich zu loben und auszuruhen, sondern um Kraft, alte und neue Ideen miteinander zu verbinden und Selbstvertrauen für die Zu­kunft zu schöpfen. Denn Europa braucht angesichts der vielen und neuen Fragen, die das 21. Jahrhundert mit sich bringen wird, Vertrauen in die eigene Kraft und vor allem ständige Besinnung an die eigene Identität. Gerade mit dieser Identität muss sich jeder potentielle Beitrittskandidat auseinandersetzen und letztlich identifizieren können. Folgende vier Grundeigenschaften Europas, die mehr als einen geogra­phischen Begriff ausmachen, präzisieren meines Erachtens die Europäische Identität.

1.      Europa enthält die Philosophie der Griechen, die unzertrennlich mit der gewollt praktizierten  

      und erlebten Realität der Demokratie und der Freiheit verbunden ist.

2.   Europa enthält das Rechtssystem der Römer, auf  welchem die rechtsstaatliche Ordnung 

      Europas basiert.

3.   Europa enthält die Ethik des Christentums, die mit dem Gedanken der Menschen­würde und

      der Menschenrechte. eng verbunden ist und nicht zuletzt ist

4.      Europa gewollt sozialmarktwirtschaftlich organisiert um Subsidiarität und Solidarität

      miteinander zu verbinden.

  Nach G. Rinsche (ehemaliger Europaabgeordneter und Vorsitzender der Konrad–Adenauer–Stiftung) haben diese Werte einen inneren und notwendigen Zu­sammen­hang. Denn Freiheit ohne Ordnung wird leicht zur Ordnung ohne Freiheit. Freiheit und Demokratie verbunden mit einer sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung erfordern die Be­achtung der Menschenwürde und die Verwirklichung der Menschenrechte.

  Unter dem Aspek­t dieser Grundideen Europas ist die Europäische Union ein großartiger Versuch, Völker, die jahrhundertlang ihre oben genannten Grundideen missachtet und sich deshalb bekämpft und zerfleischt haben, auf der Grundla­ge gleicher Rechte und in freier demokratischer Entscheidung zu einem neuen Ganzen zusammenzuschließen, um dadurch Frieden, Freiheit und Lebenschan­cen und Wohlstand für alle Beteiligten dauerhaft zu sichern (Vgl. Rinsche, G. 1998, S.. 5 ).

  Man kann heute ex post feststellen, dass die Europäische Gemein­schaft (EU) Wesent­liches dazu beigetragen hat, dass der Frieden in Kerneuropa über fünfzig Jahre anhält und dass diese Gemeinschaft den Integrationsprozess bisher relativ erfolgreich betrieben hat.

  Die Entwicklung der ursprünglichen Europäischen Wirtschaftsge­mein­schaft von sechs Staaten zu einer gegenwärtig Europäischen Union von fünfzehn Staaten ist bisher politisch, wirt­schaftlich und sozial relativ stabil ver­laufen, so dass das Ge­biet der Euro­päi­schen Union heute von allen Beobachtern als eine der stabili­tätsstär­ksten Regionen der Welt angesehen wird.

  Diese kurze positive Darstellung der Entwicklung der Europäi­schen Union könnte den Eindruck erwecken, dass man keine neuen Experimente mehr wagen und diesen erfolgreichen Entwicklungsstand in der bisherigen Weise beibe­halten sollte. Abgesehen von der Gül­tigkeit des Grun­dsatzes, dass man sich mit dem Erreichten nie zufrieden geben darf, ver­änderte der Zusammenbruch der Sowjet­union und der kommunistischen Ideologie die politi­schen und ökonomi­schen Ordnungsdaten nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt vollständig, so dass man von den veränderten Daten her ge­zwungen ist, den neuen Ent­wick­lungen mit anderen Mitteln zu begegnen (Vgl. Paraskewopoulos, Sp. 2000, S. 10). Europa bekommt damit auch die Chance auf der Grundlage von freien Entscheidungen seiner Völker seine ursprüngliche  geographische Dimension vollständig zu bekommen und politisch zu gestalten.

 2.  Die Europäische Erweiterungsstrategie und die potentiellen Beitrittskandidaten

   Die Europäische Union steht nun vor einer neuen Erweite­rungs­runde. Im Juli 1997 hat die Europäi­sche Kommission im Rahmen der Agenda 2000 dem Rat, dem Europäi­schen Parla­ment, den Beitritts­kandidaten und der breiten Öffentlichkeit eine inten­sivierte Her­anführungs­strategie vorgelegt. Damit wurde fortgeschrieben und präzisiert, was sich der Europäi­sche Rat in Kopenhagen (1993) und in Essen (1994) im Zusammenhang mit der Osterweiterung der Europäischen Union vorgenommen hat (Vgl. Steppacher, B. 1997, S.5). 

  Ende des Jahres 1998 haben in Brüssel die Regierungskonferenzen mit Estland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern und am Ende 1999 mit Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Malta begonnen. Ziel war und ist es, alle diese Länder bald als vollberechtigte Mitglieder in die Europäische Union aufnehmen zu können. Bis dieses Ziel allerdings voll­endet ist, sind auf beiden Seiten noch eine An­zahl von Maßnahmen notwendig, die den Erweiterungsprozess erleichtern sollen. Die potentiellen Kandidaten müssen vorher das gesamte Gesetzeswerk der Europäi­schen Union (aquis communautaire) nicht nur formal über­nehmen, sondern auch die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit es umgesetzt werden kann. Die Europäische Union muss ihnen zugleich alle Mitglied­schaftsrechte gewähren. Darin liegen auch die Bedenken, da ein solcher Schritt für beide Seiten vermutlich finanzielle Proble­me einschließt. Folglich ergibt sich in diesem Zusammenhang die politische Frage, ob die finanziellen Probleme maßgebend Entschei­dungen dieser Art bestimmten dürfen?

  Der Europäische Rat hat in seiner Sitzung am 24./25. März 1999 in Berlin den Beitritts­kandidaten folgende Botschaft zukommen lassen: "Die Erweiterung bleibt eine historische Priorität für die Europäische Union. Die Beitrittsverhandlungen werden - für jedes Land im jeweils erreichbaren Tempo - so zügig wie möglich fortgesetzt. Er fordert den Rat und die Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die Dynamik der Verhandlungen dementsprechend aufrechterhalten wird" (Europäischer Rat 1999,D/99/1).

  Diese Worte dürfen allerdings nicht reine Absichtserklärungen bleiben. Den Völkern Mittel- und Südosteuropas dürfen keine Enttäuschungen mehr zugemutet werden. Es darf nicht außeracht gelassen werden, dass die Zielsetzung einer umfassenden europäi­schen Integra­tion eng mit dem Wunsch verbunden war und immer ist, nicht nur ein friedliches, sondern dar­über hin­aus ein im politi­schen, ökonomischen und sozialen Sinne stabiles und damit in vielfältiger Hinsicht ein starkes Europa zu schaffen.

  Die gegenwärtige Europäische Union der 15 Mitgliedsstaaten hat heute ca.. 380 Mio. Einwohner. In den Ländern der potentiellen Beitrittskandidaten leben etwa 110 Millionen Menschen. Dies bedeutet, dass bei einem vollendeten Beitritt ein Binnenmarkt von knapp einer halben Milliar­de Markt­teilnehmern entsteht. Das ist der Wirtschaftsraum, den die Europäi­sche Union der Wirt­schaft und den darin arbeitenden Menschen ohne bürokratische Schran­ken an ökonomischen Bedingungen anbietet. Diese Möglichkeiten sind allein aus ökonomi­scher Sicht sehr hoch zu bewerten.

  In diesem Sinne versuchte die Europäische Kommission mit der Agenda 2000 die Chancen und die problematischen Fragen zu untersuchen und prakti­kable Lösungen für eine Erweiterungsstrategie vorzuschla­gen. Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission dürfen die Zielsetzungen einer Integra­tion Europas nicht nur darin beste­hen, Frieden unter den Mitglieds­staaten zu errei­chen, sondern auch gemeinsam für mehr Wohlstand und soziale Sicherheit zu sorgen sowie darüber hinaus die Be­dingun­gen dafür zu schaffen, dass die Europäische Union nicht nur ein Ob­jekt der inter­nationalen Beziehungen ist, sondern auch und vor allem ein aktiv handelndes Subjekt, welches die gemeinsamen europäischen Inter­essen wir­kungsvoll nach außen wahr­nimmt und gestal­tet.

  Diese ursprünglichen und gegenwärtigen Motive und Absichten sollen nach Auffassung der Europäischen Kommission auch für den bevorstehenden Erweiterungsprozess gelten. Dieser Prozess darf sich allerdings nicht nur auf die 15 Mitglieds­staaten der Europäi­schen Union und der Beitrittskandidaten Mitteleuro­pas beziehen. Er soll sich vielmehr auch in eine gesamteuropäi­sche Architektur einfügen, die Antworten sucht auf die Frage der Einbeziehung der europäi­schen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, der südlichen und öst­lichen Mittel­meerländer, des europäischen Wirtschaftsraumes sowie ebenfalls der Türkei. Deshalb hat der Europäische Rat von Kopenhagen im Juni 1993 die grundsätzliche Bereitschaft zur Europäischen Erweiterung erklärt und die Kriterien für die Erweiterung festgelegt.

 3.   Die Beitrittskriterien, die Heranführungsstrategie der EU und die Türkei

 

  Der Europäische Rat hat im Juni 1993 in Kopenhagen die politischen und die ökonomischen Kriterien festgelegt, die ein Bewerberland erfüllen muss, wenn es Mitglied der EU werden will. Als politische Vorbedingung gilt demnach, dass jedes Beitrittsland die sogenannte institutionelle Stabilität realisieren muss, um die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung zu garantieren, die Menschenrechte zu wahren und Minderheiten zu schützen. 

  Als wirtschaftliche Voraussetzungen werden die Realisierung einer funktionsfähigen Marktwirtschaft und die Fähigkeit verlangt, dem Wettbewerbsdruck in der EU standzuhalten. Darüber hinaus wird von den Beitrittskandidaten auch erwartet, dass sie den gemeinschaftlichen rechtlichen Besitzstand übernehmen, umsetzen und sich die Ziele der politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen.

  Für die Ausarbeitung einer Heranführungsstrategie der Europäischen Union hat der Europäische Rat die Europäi­sche Kommis­sion im Dezem­ber 1995 in Madrid beauftragt :

- Stellungnahmen zu den Beitrittsgesuchen auszuarbeiten

- eine Gesamtsicht (ein Gesamtdokument) über die Erweiterungs­problematik vorzulegen und

- eine Untersuchung des Finanzierungssystems der EU für die Zeit nach 1999 durchzuführen.

  Die Kommission legte 1997 unter dem Titel "Agenda 2000" einen mehr­bändigen Bericht (Mitteilungen) vor (Europäische Kommission (1997), Agenda 2000 - Band II )

 Darin geht es unter anderem um folgendes:

  Erstens werden Vorschläge für die Weiterentwicklung der EU in verschiedenen Bereichen unterbreitet, insbesondere hinsichtlich des Wirtschaftswachstums und der Beschäfti­gung, der Bildung, der Struk­tur- und Agrarpoli­tik sowie der Kohärenz der Außenbeziehungen.

  Zweitens werden Problembereiche der EU-Erweiterung sowohl für die EU wie auch für die Beitrittskandidaten diskutiert. Dabei werden die Kernaussagen der einzelnen Stellungnahmen zu den Beitritts­anträgen zusammengefasst und konkrete Empfehlungen zum weiteren Vorgehen gegeben. 

  Drittens präsentierte die Kommission einen Finanzplan für die Jahre 2000-2006, wobei die heutige Eigenmittelobergrenze von 1,27 v.H. des Bruttosozialprodukts (BSP) unabhängig von der bevorstehenden Vertiefung und Erwei­terung nicht verändert werden soll.

  Viertens umfasst die "Agenda 2000" die zehn Stellungnahmen und die Schlussfolgerun­gen der  Kommission zu den Beitrittsanträgen von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn.

  Fünftens hält schließlich die Kommission in einer extra, parallel zur "Agenda 2000" vorgelegten Mitteilung fest, dass auch die Türkei für eine EU-Mit­glied­schaft in Betracht kommt und dass sie nach denselben objektiven Maß­stäben und Kriterien beurteilt werden sollte wie die übrigen Beitrittskandi­daten (Vgl. auch Steppacher, B. 1997, S. 5). 

  Der fünften Empfehlung ist der Europäische Rat gefolgt und kam Ende 1999 in Helsinki zu dem Schluss, dass „die Türkei ein beitrittswilliges Land ist, das auf der Grundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigen beitrittswilligen Länder gelten, Mitglied der Union werden soll. Auf der Grundlage der derzeitigen europäischen Strategie soll der Türkei, wie den anderen beitrittswilligen Ländern, eine Heranführungsstrategie zugute kommen, die zu Reformen anregen und diese unterstützen soll“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2001), Regelmäßiger Bericht 2001 über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel S. 6.

  Da mein Vortragsthema die „sozioökonomischen Rahmenbedingungen und die Perspektiven der Türkei“ zum Gegenstand hat, möchte ich nun anhand der Daten prüfen, ob diese gegenwärtig oder perspektivisch den ökonomischen Kriterien der EU entsprechen oder entsprechen würden.

 4.      Die Anforderungen der EU und die sozioökonomischen Probleme der Türkei 

 4.1        Die erforderlichen marktwirtschaftlichen Bedingungen im Rahmen der EU

   In der Diktion der EU über die marktwirtschaftlichen Bedingungen versteht man implizit unter Marktwirtschaft ein Wirtschaftssystem, das sowohl leistungsfähig als auch sozial ist. Dieses Wirtschaftssystem hat in Deutschland den Namen Soziale Marktwirtschaft. 

  Die Idee der Sozialen Markt­wirt­schaft ist unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg in Deutsch­land entstanden. Sie wurde von ihren Vätern als ein "Dritter Weg" zwi­schen dem Kapita­lis­mus (Scylla) und dem Kommunismus (Charybdis) verstanden. 

  Man wollte damit einerseits bewusst den fast jegli­cher sozialen Elemente entbeh­renden markt­wirtschaftli­chen Kapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und ande­rerseits die totali­tären Zentral­verwaltungs­wirt­schaften, wie sie Stalin und Hitler in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts durchgesetzt haben, endgül­tig besiegen. 

  Heute will man auch in der EU mit der Sozialen Markt­wirtschaft - auf der Basis einer frei­heitli­chen und demokratischen politi­schen Ordnung - eine Synthese zwischen rechtsstaatlich gesi­cherter wirtschaftlicher Freiheit und den sozialstaatli­chen Idealen der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit, wie sie nach den Wertvor­stellungen der Länder der EU im Laufe der Zeit entstanden sind, reali­sieren. 

  In dieser wirtschaftspolitischen Konzeption stand und steht der Begriff "Marktwirt­schaft" für die wirtschaftliche Freiheit, die die Konsumenten und die Produ­zenten bei der Gestaltung ihrer ökonomischen Aktivitäten haben müssen. Sie können dadurch ihre Fähigkeiten, ihre Arbeits­kraft, ihr Geld- und Sachkapi­tal nach eigener Wahl und eigener Verantwortung einsetzen und die Konsequenzen dieses Einsatzes tragen. Diese Freihei­ten finden allerdings ihre Grenzen dort, wo die Rechte Dritter und die verfas­sungsrecht­lichen Ordnungen verletzt werden. 

  Der Begriff "sozial" bringt zuerst zum Ausdruck, dass die Marktwirt­schaft allein durch ihre Leistungsfähigkeit die Voraussetzungen für einen breiten Wohl­stand schafft und damit das Soziale in sich trägt. Ihr besonderer sozia­ler Charakter be­schränkt aber zugleich die Marktfreiheit dort, wo die Men­schen­würde ver­letzt wird und die Ergebnisse nach den Wertvorstellungen der Menschen in der EU als nicht sozial genug erscheinen (Vgl. Lampert, H. 1990, S. 96 f). 

  In den letzten 50 Jahren ist fast in allen westeuropäischen Staaten mit der Realisierung verschiedener Varianten dieser Konzeption ein mehr oder weniger dynamisches, leistungs­fähiges, vielgestalti­ges sowie ein voll­ständiges System materiellen und sozialen Schutzes errichtet worden. Und seit den politischen und ökonomi­schen Trans­formationsprozessen der 90er Jahren gilt dieses System auch als Vorbild für die osteuropäischen Transformationsländer.

  Aus der Sicht der EU sollte jedes Beitrittsland und damit auch die Türkei folgende konkrete Wirtschaftsordnungsbedingungen erfüllen:

Erstens, die Bedingungen einer funktionsfähigen Marktwirtschaft:

-         Ausgleich von Angebot und Nachfrage durch den Markt, 

-         Liberali­sierung der Preise und des Außenhandels,

-         Keine Schranken für den Marktzutritt und –austritt,

-         ein Rechtssystem, einschließlich Regelungen der Eigentumsrechte,

-         Gesetze sowie Verträge müssen vor Gericht durchsetzbar sein

-         makroökonomische Stabilität, 

-         angemessene Preisstabilität,

-         tragfähige öffentliche Finanzen und Zahlungsbilanzen,

-         breiter Konsens über die wesentlichen Elemente der Wirtschaftspolitik,

-         hinreichend entwickelter Finanzsektor, damit Ersparnisse in produktive Investitionen fließen.

Zweitens, die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten

  Dazu müssen die wichtigsten Sektoren der Volkswirtschaften ein Minimum an Wettbewerbsfähigkeit erreicht haben. Dies ist nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission dann erreicht, wenn die Unternehmen des jeweiligen Landes über die erforderliche Anpassungsfähigkeit verfügen und wenn das Umfeld weitere Anpassungen dieser Art begünstigt. Mit dem Umfeld ist Folgendes gemeint: 

-         funktionsfähige Marktwirtschaft und makroökonomische Stabilität, damit ökonomische  

      Entscheidungen unter stabilen Bedingungen getroffen werden können,

-         ein gewisses Niveau an Human ‑ und Sachkapital,

-         befriedigende Infrastruktur sowie  Forschungs‑ und Bildungs­systeme,

-         staatliche Ordnungspolitik zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit,

-         ein befriedigendes Ausmaß der Handelsverflechtung mit der EU schon vor dem Beitritt,

     Anteil der Kleinunternehmen  (Europäische Kommission 1997a, S. 47f.).

Anhand dieses Schemas werden im Folgenden die Wirtschaftsdaten der Türkei kurz kommentierend dargestellt .

 

4.2      Die sozioökonomische Situation der Türkei nach der Bewertung der Europäischen

          Kommission 

 

  Die Europäische Kommission hat 1989 zum Antrag der Türkei auf Beitritt zur Gemeinschaft folgende Stellungnahme abgegeben:

„Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Situation... ist die Kommission... nicht davon überzeugt, dass die Anpassungsprobleme, denen sich die Türkei im Falle eines Beitritts gegenübergestellt sähe, mittelfristig bewältigt werden könnten“ (Vgl. Europäische Kommission 2001 SEK 1756, S. 36)

  Elf Jahre später stellte die Kommission in ihrem regelmäßigen Bericht 2000 folgendes fest:

  „Die Türkei hat die gravierendsten wirtschaftlichen Ungleichgewichte erheblich reduziert, doch ist der Vorgang der Errichtung einer funktionsfähigen Marktwirtschaft noch nicht abgeschlossen. Ein beträchtlicher Teil der türkischen Wirtschaft ist bereits in der Lage, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Zollunion mit der EG standzuhalten“ (Ebenda).

  Die letztere Bewertung resultiert aus der positiven Entwicklung der letzten Jahren (1996-2000), wo das jährliche reale BIP durchschnittlich um ca. 4% und im Jahre 2000 sogar, um 7,2% stieg. Dies ist vor allem auf die positive Reaktion des privaten Verbrauchs nach der Ankündigung der Anti-Inflationspolitik vom Dezember 1999, auf sinkende Zinssätze und auf den Anstieg der privaten und öffentlichen Investitionen für den Wiederaufbau nach den Erdbeben von 1999, zurückzuführen. 

  Wie die aktuellen Wirtschaftsdaten der Türkei allerdings zeigen (Vgl. Tabellen 1-2 im Anhang), haben die letzten Finanzkrisen (November 2000 und Februar 2001) die makroökonomische Stabilität und damit die Leistungsfähigkeit der türkischen Wirtschaft erheblich beeinträchtigt.

  Dies wird insbesondere aus den negativen Wachstumsraten (-6,1 % Jan. – Juni 2001) des BIP des Halbjahres 2001 sichtbar, die der Rückgang der Investitionen um 23,5% mit verursacht hat.

  Auch die Arbeitslosigkeit ist im Jahr 2001 gestiegen. Die Arbeitslosenquote erreichte nach türkischen Angaben 6,9%. Außerhalb der Landwirtschaft stieg sie sogar auf 10,7% und bei den ausgebildeten jüngeren Erwerbsfähigen liegt die Arbeitslosenquote bei 23,2%.

  Die inflationären Tendenzen haben ebenfalls zugenommen. Die Ende 1999 begonnene Anti-Inflationspolitik hat zunächst dazu geführt, dass die jährliche Steigerungsrate der Verbrauchspreise (VPI) von 69% im Dezember 1999 auf 33% im Februar 2001 zurückging. Infolge der zweiten Finanzkrise im Februar 2001 nahm die Inflationsrate wieder zu. So stiegen die Verbrauchspreise im März um 10,3%, im April um 5,1% und im September um 5,9% gegenüber dem Vormonat. Trotz der moderaten Lohnsteigerung im öffentlichen Sektor und der geringen Inlandsnachfrage ist zu erwarten, dass der Inflationsdruck aufgrund der anhaltenden Schwäche der türkischen Lira anhalten wird.

  Die Finanzkrisen haben dazu geführt, dass die türkische Regierung ihren Anti-Inflationskurs, den sie durch die Wechselkursbindung der türkischen Lira verfolgte, nicht mehr halten konnte. Die Freigabe der türkischen Lira am 22. Februar 2001 führt bis zum Beginn des Jahres 2002 zu einer Abwertung von mehr als 50%. Diese Entwicklung hat nicht nur den Inflationsdruck wieder massiv erhöht, sondern führte auch zu einer Erhöhung der Zinssätze - als Ausdruck der Unsicherheit der Finanzmärkte - , zu einer Zunahme der Staatsverschuldung, zur Stagnation der ausländischen Investitionen sowie zu relativ hohen Kapitalabflüssen, die letztlich  zu einem erheblichen Rückgang der Devisenreserven führten.

  Als positive Folge der Finanzkrisen ist die Entwicklung der Handelsbilanz anzumerken. Die massive Abwertung der türkischen Lira verursachte in der ersten Jahreshälfte 2001 einen Rückgang der Nachfrage nach Importgütern um 23,7% und eine Erhöhung der Exporte um 8,8%. Diese Entwicklung trug vermutlich dazu bei, dass die negativen Auswirkungen der Finanzkrise auf das Wachstum des BIP abgemildert wurden.

Als eine weitere positive Folge der Finanzkrisen ist eine beschleunigte Strukturreform zu nennen, die die Begrenzung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft zum Ziele hat. Dies gilt insbesondere für den Sektor der Banken, wo man wichtige ordnungspolitische Schritte unternommen hat. Dabei werden insbesondere die Unabhängigkeit der Zentralbank, die Privatisierung staatlicher Banken, eine Stärkung der Aufsichtsregeln, eine Verringerung der politischen Einflussnahme auf die Verwaltung der Banken, die Liberalisierung von Schlüsselindustrien (z.B. des Energiesektors) und die Privatisierung staatlicher Monopole angestrebt. Für die letzteren wurden bereits Regelungen erlassen.

  Fortschritte sind nach Ansicht der Kommission auch im Agrarsektor, wo die Einflussnahme des Staates abzunehmen beginnt, erzielt. Man ist dabei bemüht, das bisherige Preisstützungssystem durch direkte Einkommensunterstützungen zu ersetzen. Was aus sozial marktwirtschaftlicher Sicht zu begrüßen ist.

 

 

5.  Fazit

 

   Trotz all dieser Bemühungen und Absichten, die die Türkei insbesondere seit 1995 unternimmt, ist es ihr nicht gelungen, den großen Abstand zur EU auf wirtschaftlichem Gebiet zu verringern (Vgl. Tabellen 3-6 im Anhang). Das Pro-Kopf-BIP gemessen in Kaufkraft Standards (KKS) liegt bei 26% des EU-Durchschnitts. Unter den Beitrittskandidaten liegt nur Rumänien mit 23%  noch niedriger. Hinzu kommen die beträchtlichen regionalen und soziale Disparitäten die sich nach Ansicht der Europäischen Kommission weiter vertieft haben. Die Kommission stellt fest, dass die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Gebieten sowie zwischen höheren und niedrigeren Einkommen sehr groß sind. Die soziale Lage hat sich durch die hohe Inflation und durch die jetzige wirtschaftliche Krise weiter verschlechtert.   

  Positiv ist zu bemerken, dass trotz all der hier kurz angesprochenen Probleme, die türkische Regierung an ihrem geplanten Wirtschaftsprogramm festhält und die beabsichtigten Regelungen einführt. So wurde beispielsweise, um die Ursachen und Folgen der Finanzkrise in den Griff zu bekommen, das Amt des Wirtschaftsministers aufgewertet. Dabei wurde ein Reformpaket mit dem Titel „Programm für eine starke Wirtschaft“ beschlossen, welches primär die Beseitigung der politischen Einflussnahme auf die Wirtschaft, die Konsolidierung des Finanzsektors, die Intensivierung des sozialen Dialogs und die Beschleunigung der Strukturreform auf allen Ebenen der Wirtschaft und Gesellschaft zum Ziele hat.     

  Das ehrgeizige Wirtschaftsprogramm der türkischen Regierung zielt zu recht auf die Risiken und Schwachstellen des nationalen Finanzsektors ab und strebt eine Rücknahme der staatlichen Eingriffe in der Wirtschaft an. Die strukturellen Schwächen waren auch die Hauptursachen für die Entstehung der Krise. Der erste kurzfristige Schritt für die Herstellung der gesamtwirtschaftlichen Stabilität ist deshalb eine erfolgreiche Bekämpfung der Inflation. Mittelfristig muss  jedoch der erforderliche marktwirtschaftliche Ordnungsrahmen geschaffen werden, der für eine nachhaltige Entwicklung sorgen wird.

  Die Europäische Kommission sieht vor allem einen Umstrukturierungsbedarf in den Sektoren Finanzen, Landwirtschaft und Staatsunternehmen, um die Wettbewerbsfreiheit der Türkischen Wirtschaft spürbar zu verbessern.  Darüber hinaus müssten die Haushaltsprioritäten umstrukturiert werden, damit landesweit genügend Investitionen in den bisher vernachlässigten Sektoren wie Bildung, Gesundheit, soziale Dienste und in die materielle Infrastruktur vorgenommen werden können (S. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Regelmäßiger Bericht 2001 über die Fortschritte der Türkei, S. 36-49).

  

6.   Anmerkungen

 

Europäische Kommission (1997a),  Agenda 2000 - Band I: Eine stärkere und erweiter­te Union,

                                                           Brüssel.

Europäische Kommission (1997),  Agenda 2000 - Band II - Mitteilung: Auswirkungen einer

                                                         EU-Mitgliedschaft der beitrittswilligen Länder Mittel- und

                                                         Osteuropas auf die Politiken der EU (Wirkungsanalysen),

                                                         Brüssel.

Europäische Kommission (2001),  Regelmäßiger Bericht 2001 über die Fortschritte der Türkei

                                                         auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel, S. 36-49.

Europäischer Rat Berlin (1999),  D/99/1. Schlussfolgerungen des Vorsitzenden,

                                                    Europäische Kommission 2001 SEK 1756.

Lampert, H. (1990), Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland,

                                10. Aufl., München.

Paraskewopoulos, Sp. (2000), Einführung in die Problematik der Osterweiterung der

                                           Europäischen Union, in: Paraskewopoulos, Sp.,

                                           Die Osterweiterung der Europäischen Union. Chancen und

                                           Perspektiven, Berlin, S. 9 – 16.

Rinsche G. (1998),  Menschenwürdiges Leben im Europa des 21. Jahrhunderts

                                 Grundla­gen, Erfordernisse, Perspektiven, in: Rinsche, G.,

                                 Friedrich, I., (Hrsg.), Weichenstellung für das 21. Jahrhundert,

                                 Köln, Weimar, Wien,  S. 5 – 23.

Steppacher, B. (1997),  Die Europäische Union vor einer neuen Erweiterungsrunde. Kernpunkte

                                       der intensivierten Heranführungsstrategie der EU für mittel- und

                                       osteuropäische Beitrittsaspiranten. Arbeitspapier der Konrad-Adenauer

                                       -Stiftung. Bereich Forschung und Beratung - Internationale Politik -, 2.

                                        überarbeitete Auflage, Sankt Augustin.

 

Tabelle 1: Strukturindikatoren der türkischen Wirtschaft

 

 

 

Tabelle 2: Wirtschaftsdaten der türkischen Wirtschaft


 


 

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